Zwei Welten, Kap. 3
 

Das Flugschiff zog geräuschlos seine Bahn über den wolkenlosen Himmel. Sein Kurs folgte grob der Küstenlinie, und am Horizont war bereits Ughaal, das Ziel dieser Fahrt, zu erkennen. Es konnte nur noch kurze Zeit dauern, bis das Schiff die Hauptstadt des Reiches Bridan erreichen würde.
Das stetige Knarren des biegsamen Holzes war etwas, an das sich einige der Passagiere erst hatten gewöhnen müssen, doch schätzte zweifelsohne ein jeder an Bord die Vorzüge des Reisens fern der Gefahren und Unannehmlichkeiten, denen man selbst in Friedenszeiten als Reisender am Boden ausgesetzt war. Etwa hundert Schritt über der Steppe war die Weite nur eine Illusion, ein unter dem Schiff verschwimmendes Muster des vor Hitze gelben Grases und der reglosen Wasserfläche des Chardedek, die das Sonnenlicht gleißend reflektierte.
Neben der achtköpfigen Besatzung befanden sich zwanzig Reisende an Bord. Es waren überwiegend Händler, die nach dem Friedensschluss vor vier Jahren und der damit verbundenen Annäherung zwischen den Völkern begonnen hatten, ihre Geschäfte über den bisherigen Grenzhandel hinaus auszudehnen. Die Flugschiffe waren dafür ein ideales Transportmittel, und es war nicht schwer, über ihre Nützlichkeit zu vergessen, dass sie ursprünglich für einen Krieg entwickelt und gebaut worden waren, der nie stattgefunden hatte.
Die Entwicklungen, die damals in Ughaal ihren Abschluss fanden, waren zumindest den zwei Passagieren in guter Erinnerung, die nun auf der Bugplattform des Schiffes standen und deren Blicke der Flugroute vorauseilten.
Man musste kein guter Beobachter sein, um in den beiden jungen Frauen Geschwister zu erkennen. Es war auch kaum mehr Wesenskenntnis notwendig, um zu sehen, welche von den Schwestern die Ältere war.
Auch der Besatzung des Schiffes war diese Entscheidung nicht schwer gefallen, zumal sie jede Gelegenheit nutzten, um einen Blick auf die beiden zu werfen, wenn sie sich unbeobachtet fühlten.
Den zwei Efhiri entging dies ebenso wenig wie die leisen Wortwechsel. Doch sie gönnten den jungen Schiffern ihre Gedanken, denn sie wussten, dass der Respekt vor den hochrangigen Passagieren jegliche Avancen im Keim ersticken musste.
Die ältere Schwester trug die lange, beinahe bis zum Boden reichende Schärpe, die sie als Botschafterin auswies. Die Stickereien an der aufwendigen Kleidung verrieten Kennern efhirischer Kultur, dass sie als offizielle Vertreterin der Hohen Häuser reiste.
Die Jüngere war ungleich einfacher und dabei zweckmäßiger gekleidet, weniger in Tuch als vielmehr in das dunkelbraune, weiche Wildleder, das Efhiri im Alltag trugen. Auch war sie im Gegensatz zu ihrer Schwester sichtbar bewaffnet. Das über einen Schritt lange Blasrohr, das sie beim Einschiffen bei sich getragen hatte, war in der Kajüte verstaut, doch die schmale, dreieckige Klinge des efhirischen Kurzschwertes steckte in der dafür vorgesehen Schulterschlaufe.
Waffe und Abzeichen zugleich waren die Unterarmpassen, aus denen ein Federmechanismus die gefürchteten efhirischen Jagdklauen schnellen lassen konnte. Die an ein stilisiertes Blatt erinnernde Verzierung der ansonsten schmucklosen Passen verriet Eingeweihten, dass sie diese Auszeichnung noch nicht lange tragen durfte.
Die zwar zierlich gearbeitete, aber dennoch recht martialische Ausrüstung bildete einen Gegensatz zu ihrem humorvollen und offenem Wesen, das die für Efhiri übliche Zurückhaltung ihrer Schwester überließ. Dieser Umstand war auch das Thema des leisen Gesprächs, das die Schwestern führten.
"Ich bin seit zwei Jahren mündig und du behandelst mich immer noch wie ein Kind, Tarszha", stellte die Jüngere fest. "Außerdem denkst du immer noch, ich würde versuchen meiner Verantwortung durch diesen Schritt auf unbestimmte Zeit zu entgehen, nicht wahr?"
"Ach, Ajisa ...", entgegnet die Angesprochene nachdenklich. "Ich kann dich durchaus verstehen. Du verabscheust die Bindungen, die sich aus dem Amt ergeben, auf das du Anrecht hast. Was mich stört ist vielmehr, dass du dich einem Bund angeschlossen hast, zu dessen Gegnern ich während seiner Gründung zählte und noch immer zähle."
Sie wandte sich von der vor ihr liegenden Weite ab und lehnte sich mit dem Rücken an die für Efhiri ungewohnt hohe Reling.
"Ich heiße es durchaus gut, dass die jungen Leute unseres Volkes etwas von der Welt sehen, bevor sie ihren Platz in den Häusern einnehmen. Was ich weniger begrüße ist, dass man die Wanderungen bewaffneter Efhiri leicht als den Versuch der Häuser missdeuten könnte, auch in Friedenszeiten Kampfstärke zeigen zu wollen."
Sie gab sich nun keine Mühe mehr, ihren Missmut zu verbergen.
"Das schürt möglicherweise erneuten Argwohn der wenig abgeklärten Gemüter Bridans und könnte die Saat neuer Anfeindungen sein."
"Ich denke, du unterschätzt die Bridaniin, Schwesterherz. Sie sind längst nicht so unkultiviert, wie es einige Mitglieder der Hohen Häuser gerne behaupten."
"Nicht selten trifft die Einschätzung der Hohen Häuser zu."
Sie machte eine Geste in Richtung der Schiffsbesatzung, die sich immer noch über die körperlichen Vorzüge zweier Passagiere ausließen und dabei die Schärfe des efhirischen Gehörs gewaltig unterschätzten.
Ajisa verstand die Andeutung ihrer Schwester.
"Die Ungebundenen in unseren Siedlungen sind auch nicht zurückhaltender. Sie sind lediglich geübter darin, ihr Interesse zu verbergen. Die Vertreter der Hohen Häuser zeigen mit solchen Behauptungen eine Unduldsamkeit, die sie den Bridaniin nur zu gerne unterstellen."
"Du vergreifst dich im Ton, Ajisa", entgegnete Tarszha heftig.
"Ich sage nur, was ich sehe und höre", konterte sie und rückte etwas näher. "Vielleicht solltest du darüber nachdenken, ob deine persönlichen Gefühle deine Urteilskraft trüben."
Tarszhas plötzliche Anspannung war nicht zu übersehen, und für einen Moment sah es aus, als hätte sie vor, ihre Schwester zurechtzuweisen. Niemand außer ihr selbst hätte mit Sicherheit sagen können, ob es Einsicht oder Selbstdisziplin war, die sie darauf verzichten ließ.
"Möglicherweise hast du recht", gestand sie leise. "Vielleicht irre ich mich in dem ... in dem jungen Mann, dem du zugetan bist. Aber lassen wir einmal außer Acht, wie eine solche Bindung in der Heimat aufgenommen würde. Noch gehört euch die Zeit der Jugend, aber während für ihn nie Verpflichtungen anstehen, die er nicht auf sich nehmen will, wirst du irgendwann deinen Platz einnehmen müssen. Wird er dann bei dir bleiben?"
Ajisa schwieg für einige Augenblicke. "Ich hoffe es", meinte sie dann. "In ihm fließt auch das Blut unseres Volkes." Sie suchte den direkte Blickkontakt ihrer Schwester. "Im Gegensatz zu dir wäre ich jedoch auch bereit, auf alles zu verzichten, um mit ihm ein Leben nach unseren Vorstellungen zu führen."
Tarszha bewahrte auch jetzt die Fassung. Sie hatte sie mit einer solchen Eröffnung gerechnet. "So denkst du jetzt, aber was später sein wird, weiß niemand zu sagen."
"Lassen wir es auf uns zukommen." Aus einer Regung heraus umarmte Ajisa ihre Schwester. "Ich achte dein Bestreben, mich zu schützen."
Tarszha duldete die rührige und für Efhiri in der Öffentlichkeit im Grunde ungebührliche Geste. Sie lächelte sogar, als sie erkannte, dass es Ajisa nicht leicht gefallen sein konnte, auf die Art mit ihrer Schwester zu reden, wie sie es zuvor getan hatte. Letztendlich hatte sie immerhin – wie schon so oft – mit ihrer Einschätzung keineswegs ganz falsch gelegen.
Der versöhnliche Augenblick endete mit einer plötzlichen, heftigen Bewegung des Schiffes.
"Wir landen", meinte Ajisa.
Sie holte eine Beobachtung nach, die ihr aufgrund des Gesprächs entgangen war: Unter ihnen erstreckten sich die flachen, außerhalb der Stadtmauern liegenden Gebäude des Lufthafens, zwischen denen die Landeflächen lagen. Einige davon waren bereits von anderen Flugschiffen belegt.
Einer der Matrosen trat auf die Plattform und nickte höflich, als die Schwestern auf die Treppe auswichen, um die kleine Fläche für den Schiffer zu räumen. Er schaute kurz über die Reling, bis er den Mann entdeckt hatte, der auf einer der Landeflächen stand und eine gelbe Flagge schwenkte, dann wandte er sich um.
"Landeplatz sechs, Schiffserster!", rief er über die komplette Länge des Schiffes und zwängte sich mit einem entschuldigenden Blick an den Schwestern vorbei, die es versäumten, erneut rechtzeitig Platz zu machen.
Ajisa zwinkerte dem jungen Mann verschmitzt zu. "Bitte richte deinen Freunden aus, wie geschmeichelt wir uns fühlen."
"Was? – Äh ... Ja ... Verzeiht, Midaari", stotterte der Matrose und beeilte sich, von der Bildfläche zu verschwinden, als Ajisa gnädig nickte.
"Diese Bloßstellung wäre nicht nötig gewesen", stellte Tarszha gleich darauf fest, aber ihr verhaltenes Lächeln strafte die Zurechtweisung Lügen.
"Es dürfte ihm und seinen Freunden helfen, weiteren Fettnäpfchen auf dieser Route zu entgehen, wenn sie wissen, wie gut die Ohren der Efhiri sind."
"Das ist allerdings gut möglich. – Holst du bitte unser Gepäck, ich möchte dem Kapitän unseren Dank für die ruhige Reise aussprechen, bevor wir das Schiff verlassen."

Oreed trat erst aus dem Schatten des Lotsenhäuschens, als das Flugschiff sanft auf der Wiese aufsetzte.
Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit trug er helle Kleidung, die bei diesem Wetter angenehmer war und zudem den Vorteil hatte, dass er für die von ihm erwarteten Ankömmlinge leichter erkennbar sein würde.
Um ihn herum bildete sich sofort etwas Freiraum, als die anderen Wartenden ihn erkannten und ihren Respekt einem Amtsträger gegenüber in der für Ughaal üblichen Weise bekundeten, indem sie eine Körperlänge Abstand hielten. Aus dem Augenwinkel registrierte er, wie jemand neben ihn trat.
"Schön, dich gesund wiederzusehen", meinte er, ohne den Blick vom Schiff abzuwenden. Ein verschmitztes Zucken im Mundwinkel strafte sein Desinteresse an Jians Ankunft Lügen. "Beinahe wärst du zu spät zurückgekehrt."
"Ich war noch bei Chidira. Sie sagte mir, dass die Schwestern heute schon eintreffen, und ich habe mich beeilt."
"Ich hoffe, du schwitzt nicht wie ein abgetriebenes Nirig, wenn du unsere Gäste begrüßt."
"Es gibt einen Brunnen am Eingang des Lufthafens, und über die Landeplätze bis hierher ist es ein sehr trockener Weg."
Oreed lächelte, was sowohl als Reaktion auf die Erklärung Jians als auch zur Begrüßung der Schwestern geeignet war, die in diesem Moment auf der Ausstiegsrampe erschienen. Er und sein Ziehsohn setzten sich in Bewegung, um den Frauen entgegen zu gehen.
Es war Tarszha, die das Wort ergriff. "Es ist schön, euch beide wiederzusehen", meinte sie und blickte sich kurz um. "Danke, Oreed, dass du es einrichten konntet, unser Eintreffen vorerst inoffiziell zu behandeln."
"Ganz so, wie du es wolltest", entgegnete er. "Ich kann verstehen, wie schwer es für die Gesandte der Hohen Häuser sein muss, privat zu reisen, ohne bei jeder Gelegenheit als offizieller Vertreter von Tzane angesprochen zu werden. Ich schlage daher vor, unser Wiedersehen in den Mauern des Palastbezirks begehen." Er hielt inne. "Ich musste natürlich den Regenten über eure Ankunft unterrichten und hoffe dabei auf euer Verständnis."
Er ging einige Schritte und zwang so die ganze Gruppe, sich in Richtung des Tores in Bewegung zu setzen.
"Natürlich", beantwortete Tarszha seine Frage. "Unser Besuch ist leider nicht vorrangig privater Natur. Ich bin erfreut, dass ich mit dem Regentenpaar wie mit guten Bekannten über gewisse Dinge sprechen kann" Sie blieb kurz stehen. "Übrigens, mir kam zu Ohren, das Regentenpaar erwartet Nachwuchs und wäre damit nicht allein?"
Oreeds Antwort bestand aus einem Lächeln.
"Wir werden euch berichten, was während eurer Abwesenheit hier geschehen ist. Und wir möchten erfahren, wie es euch in den letzten Jahren ergangen ist." Sein Nicken deutete auf einen Punkt hinter ihrem Rücken. "Ich gewinne den Eindruck, dass die beiden dann bereits einen Vorsprung haben werden."
Tarszha wandte sich um und bemerkte ihre Schwester und Jian, die nach wenigen Schritten stehen geblieben waren. Die beiden standen, die Hände ineinander gelegt, und tauschten sich flüsternd über etwas aus, das sie nicht im Detail verstehen konnte. Die Szene hatte etwas Persönliches und gleichzeitig Rituelles. Sie ahnte den Hintergrund und ein gewisser Unwille breitete sich in ihr aus.
Es war die Hand Oreeds auf ihrer Schulter, die sie daran hinderte, den gemeinsamen Moment der Zwei durch einen Ruf zu stören. Ihm war ihr Missfallen nicht entgangen.
"Lass sie", meinte er ernst. "Ihr Versprechen gehört ihnen und sie sollten sich gegenseitig vergewissern dürfen, dass sie es eingehalten haben."
Sie nickte widerstrebend. "Du hast recht. Ich fürchte nur eine Voreiligkeit."
"Davon kann bei diesen Beiden nach vier Jahren des Wartens im Grunde nicht die Rede sein, nicht wahr?"
"Eine feste Verbindung der beiden hätte aus Sicht der Efhiri erhebliche Konsequenzen", meinte sie so leise, dass nur Oreed es hören konnte. "Wäre das zwischen den Beiden nur eine Liebelei, wäre ich weniger besorgt über etwaige Folgen."
"Es wird Gelegenheit geben, auch darüber zu sprechen", räumte Oreed ein. "So schnell wirst du mich nicht als Mitglied der Familie dulden müssen."
Sie lächelte zurückhaltend. "Nun, das beruhigt mich allerdings."

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