Zwei Welten, Kap. 1
 

Die sengenden Strahlen der Mittagssonne brannten auf die leer gefegten Straßen Ughaals. Sie ließen die Luft zwischen den Häusern vor Hitze flirren und schärften die spärlichen Schatten zu kompakten Massen. Wie jedes Jahr, wenn die letzten Tage des Feuermondes in ihren letzten Zügen noch einmal alle Kraft aufboten, hatten sich alle Bewohner der Stadt in die Kühle ihrer Häuser geflüchtet, während Durchreisende Erfrischung und Schatten in den Gasthäusern suchten.
Das Goldene Horn war eine der besseren Gaststuben der Stadt, die nicht jedem offen stand. In der Nähe des Palastbezirks gelegen, verkehrte hier überwiegend die Elite Ughaals. Wer in diesem Haus einkehrte, durfte weder einen schmalen Geldbeutel noch einen schlechten Ruf haben.
Das Gebäude folgte der in Bridan üblichen Architektur eines lang gestreckten Baus mit flachem Dach, bestehend aus gebrannten, mit Muschelkalk verputzten Ziegeln, deren freundliches Weiß nur durch hohe, schmale Fensteröffnungen unterbrochen wurde. Üblicherweise lebten in solchen Häusern mehrere Generationen einer Familie in separaten Wohneinheiten, doch hier war die Aufteilung des Innenraums eine andere: Nach Durchschreiten der Eingangstür fand man sich in einem Schankraum wieder, der gut zwei Drittel des Erdgeschosses einnahm und in seiner Weitläufigkeit nur durch Stützbalken und verschiebbare Trennwände unterbrochen wurde. Mit zahlreichen Schnitzereien verzierte, niedrige Tische waren über den verfügbaren Platz verteilt, jeder mit darum arrangierten Sitz- und Liegekissen. Alles hinterließ einen gepflegten, ja gediegenen Eindruck.
Der Rest des Erdgeschosses bestand aus einer Theke direkt gegenüber der Tür und der daran angeschlossenen Küche und Lagerräumen. Zur Linken der Theke führte eine Rampe in das Obergeschoß, in dem sich die Wohnung des Eigentümers und sechs Gästestuben befanden; unter der Rampe führte ein Durchgang zu einem Anbau mit weiteren acht Stuben.
Der Eingang war zu dieser Jahreszeit nur mit einem Tuch verhangen, welches die willkommenen Brisen einließ und die schwüle Luft draußen hielt. Stabile Angeln am Türrahmen verrieten, dass der Eingang bei härterer Witterung und aus anderen Anlässen heraus mit einer festen Tür verschlossen werden konnte.
Hinter der Theke stand der Eigentümer des Gasthauses und musterte mit unzufriedener Miene die leeren Tische. Trotz der Hitze hatten sich bisher nur wenige Gäste eingefunden. Wer sich die Preise des Goldenen Horns leisten konnte, verfügte normalerweise über eigene Möglichkeiten, der Hitze zu dieser Tageszeit begegnen. Es war zu erwarten, dass sich der Schankraum erst in den Abendstunden füllen würde, wenn der Hang zur Geselligkeit auch die besseren Schichten Ughaals zusammenführte.
Der junge Mann, der in diesem Augenblick die Schenke betrat, erweckte nicht den Eindruck, als gehöre er zur üblichen Klientel des Hauses. Sein dunkelblondes Haar stand wirr in alle Richtungen ab, und seine Kleidung, so gut gearbeitet sie auch war, deutete auf jemanden hin, der in einer anderen Riege von Gasthäusern verkehrte.
Er trug eine ärmellose, dunkelgraue Weste, die vorne offen war und freien Blick auf einen aufwendig gearbeiteten Anhänger aus Federn und Silberdraht gewährte. Das ungewöhnliche Schmuckstück lag auf der bloßen Haut, auf ein Hemd hatte der Träger der Hitze wegen verzichtet. Die knielange, in den Beinen sehr weite, ebenfalls aus dunkelgrauem Tuch bestehende Schurzhose wurde an den Hüften von einem schmalen Gurt zusammengehalten, an dem neben einem Dolch fremdländischer Herkunft auch ein kleiner Lederbeutel befestigt war.
Seine Beine waren von den Paarhufen bis zum Kniegelenk durch straff gewickelte Bandagen geschützt, wie es körperlich sehr aktive Bridaniin zu tun pflegten, um ihre Sehnen und Bänder zu schonen. Ungewöhnlich war, dass er seine Füße zusätzlich mit Ledertüchern umwunden hatte, ganz so, wie es Bridaniin taten, wenn sie sich etwas zwischen die Hufe getreten hatten und die Verletzung vor Schmutz schützen wollten.
Die Bewegungen des Mannes ließen nicht darauf schließen, dass er sich kürzlich verletzt hatte. Statt dessen zeigte jeder seiner Bewegungen eine Eleganz, die nicht zu den wuchtigen Bewegungen passen wollte, die den Bewohner Bridans eigen waren. In den untypisch dunklen Augen blitzte der Schalk.
Auch das Gesicht des Wirts hellte sich auf, als er den Besucher bemerkte. Seine Freude galt weniger einem möglichen Kunden als vielmehr dem Umstand, dass ein gern gesehener Bekannter bei ihm vorbei schaute.
Mit unregelmäßigen Schritten bewegte sich der bärtige Hausherr, dessen Alter sich um das sechzigste Lebensjahr bewegen mochte, hinter der Theke hervor. Als er in voller Lebensgröße sichtbar wurde, konnte man erkennen, dass sein linkes Bein verkrüppelt war. Er zog den Unterschenkel in einem falschen Winkel hinter sich her, doch die gleichzeitige Leichtigkeit seiner Bewegungen verriet, dass die Ursache dieser Behinderung lange Zeit zurückliegen musste, und dass er sich inzwischen damit arrangiert hatte.
"Jian!", rief er volltönend. "dass du dich so bald wieder hier blicken lässt, hätte ich nicht für möglich gehalten! Wurde es dir in Adlhed zu langweilig, oder hat dir ein Vogel das Gleiche wie mir gezwitschert?"
"Sowohl als auch, Dimojh. Adlhed ist fast so groß wie Ughaal und als Handelszentrum mindestens ebenso lebendig. Aber irgendwie sind die Leute dort ernster – das muss am trockenen Klima da oben liegen." Er lächelte. "Und dank der lebendigen Gerüchteküche Adlheds ist mir natürlich ist mir zu Ohren gekommen, dass in den nächsten Tagen eine Delegation aus Tzane erwartet wird."
Dimojh ließ sich zurück sinken und stützte sich mit den Ellbogen auf die Theke. "Und du rechnest damit, dass eine ganz bestimmte Person dabei sein wird, nicht wahr?"
Jian lachte auf. "Es gibt nicht viele Efhiri, die sich vorbehaltlos zu uns Grasfressern begeben würden."
"Trotz des langen Friedens an der Waldgrenze gibt es auch hierzulande noch genug Leute, die nicht gut auf die Efhiri zu sprechen sind. Du bist jung und ich bin alt genug, um nicht von scharfen Messern zu träumen."
"Es wird noch einige Zeit dauern, bis auch die Veteranen des letzten Grenzkrieges erkennen, dass die Efhiri sie nicht fressen wollten, sondern lediglich etwas dagegen hatten, dass man ihre Wälder in Weideland verwandeln wollte. Jemand wie ich, der das Blut beider Völker in sich trägt, kann beide Standpunkte verstehen, was es nicht leichter macht."
Dimojh winkte ab. "Lassen wir diese Dinge ruhen. Ich freue mich für dich, dass du Ajisa nun endlich wieder siehst." Er zwinkerte verschwörerisch. "Aber ich weiß auch, dass einige Mädchen in dieser Gegend enttäuscht sein werden. Der hübsche Ziehsohn des Stadthauptmanns gilt als eine gute Partie."
"Das mag sein." Jian lehnte sich neben ihn an die Theke. "Das ist aber sicher nicht meine Schuld. Ich habe nie verschwiegen, dass Ajisa und ich uns vor vier Jahren versprochen haben, aufeinander zu warten."
"Das ist lange her und damals wart ihr fast noch Kinder. Wenn ihr euer beider Versprechen gehalten habt, ist es nun um so wertvoller."
"Die Efhiri nehmen es mit ihren Gelöbnissen sehr ernst, Dimojh. Und ich gehöre zur Hälfte zu ihnen."
"Ich erinnere mich auch recht gut, wie traurig ihr zwei damals auf der Abschiedsfeier wart."
Jian nickte. "Ich wäre gerne mitgegangen, aber mich hielt ebenso viel hier. Außerdem wusste ich, dass sie so bald wie möglich zurückkehren würde."
"Jedenfalls wünsche ich euch alles Gute", versicherte Dimojh. "Warst du eigentlich schon bei deinen Eltern? Falls nicht, solltest du dich nicht zu lange hier aufhalten. Du weißt, Chidira und Oreed sind sehr besorgt, weil du die Reise diesmal ganz allein angetreten hast."
"Ich war sozusagen auf dem Weg zu ihnen. Wie geht es meiner Mutter inzwischen?"
Dimojh Miene bekam den Ausdruck wohlwollender Abgeklärtheit. "Es hat sich Einiges getan. Das meinte jedenfalls Oreed, als er sich noch gestern Abend bei mir ausweinte."
Jian boxte dem Älteren spielerisch an den breiten Oberarm. "Deine Sippe ist groß. Das macht dich zu einem guten Ratgeber für werdende Väter", meinte er scherzhaft.
"Gut möglich", erwiderte Dimojh ernsthaft. "Chidira ist inzwischen übrigens recht häufig bei Sgarui. Kein Wunder, sie und die Regentin sind in etwa in der gleichen Zeit und beide denken nicht daran, ihre Geschäfte ruhen zu lassen. – Und was meine eigenen Kinder angeht, Jian, sind sie alle längst aus dem Haus." Dimojh grinste. "Was denkst du eigentlich darüber, dass eure kleine Familie größer wird?"
"Ich freue mich ebenso auf den Nachwuchs wie Chidira und Oreed selbst. Da ich vermutlich bald dauerhaft aus dem Haus bin, wird mich das Kleine wohl in meiner Rolle als Unruhestifter beerben."
Dimojh entgegnete nichts darauf, und Jian warf einen Blick auf den schmalen Lichtstrahl, der durch eine Lücke im Türvorhang in den Schankraum fiel. Er war während des Gesprächs ein sichtbares Stück weiter gewandert.
"Ich werde dann wohl deinem Rat folgen und mich bei meinen Eltern blicken lassen", meinte der junge Mann. "Wir sind sicher heute Abend gemeinsam hier."
"Ich nehme dich beim Wort, Junge."
Jian drückte sich an der Theke hoch, stieß sich mit den Füßen ab und schlug mit spielerischer Eleganz einen Salto rückwärts. "Versprochen, Dimojh", meinte er lachend, kaum dass er wieder festen Boden unter den Füßen hatte.
"Mach das hier drin nicht noch einmal", drohte ihm der Ältere mit dem Finger. "Und jetzt beeil' dich!"

Jians Weg führte ihn direkt in den Palastbezirk. Die hohen Wehranlagen waren mit seinem Leben ebenso untrennbar verbunden wie die gebrannten Lehmziegel untereinander.
In diesen Mauern hatte er erstmals ein Heim gefunden, nachdem ihn Oreed aus dem Kampfgebiet mitgebracht hatte. Sich elternloser Kinder anzunehmen, gehörte zu den ältesten Bräuchen der bridanischen Herden – doch über das Schicksal des Kleinkindes, dem man seine Mischlingsherkunft leicht ansah, hatte letztendlich das Los entscheiden. Zuerst war Oreed der unglückliche Verlierer gewesen, doch mit den Jahren hatte sich Zuneigung für und Stolz auf den Ziehsohn entwickelt. Jian besaß alle Eigenschaften, die Bridaniin an ihrem Nachwuchs schätzten und darüber eine Geschicklichkeit, die Teil seines Efhiri-Erbes waren.
Der junge Mann blinzelte, als er die Mauer hinauf sah, deren obere Kante sich scharf gegen das Blau des wolkenlosen Himmels abhob. Die Silhouette einer Wache erschien nur kurz im Blickfeld und hob grüßend den Arm. Jian kannte die meisten Angehörigen der Palastwache persönlich und winkte zurück, auch wenn er den Grüßenden nicht erkennen konnte.
Hinter diesem Teil der Mauer lag der Palastgarten, der in friedlichen Zeiten wie diesen ebenso wenig Bewachung nötig hatte wie der gesamte Palastbezirk. Aber der Wachdienst war ein Ehrendienst, und jeder Angehörige des stehenden, kleinen Heeres von Bridan versah ihn so, als gäbe es in den umliegenden Steppen jemanden, der den Garten stehlen würde.
Ein Lächeln glitt über Jians Gesicht, als er an die trauten Momente in den abgelegenen Teilen des Palastgartens dachte. Sie hatten erfordert, dem stets wachsamen Blick von Tarszha, der älteren Schwester Ajisas zu entgehen. Das war um so leichter gewesen, wie die Friedensverhandlungen die Aufmerksamkeit Tarszhas voll und ganz beansprucht hatten.
Bei ihrem letzten Stelldichein vor dem Aufbruch der Schwestern hatten sie sich das Versprechen gegeben, aufeinander zu warten. Damals mochte es eine Geste kindlicher Naivität gewesen sein, aber die Jahre selbst hatten mehr daraus gemacht. Aus der jugendlichen Zuneigung von damals war – trotz oder gerade wegen der Zeit ihrer Trennung – etwas anderes geworden; etwas, das er nicht genau einordnen konnte.
Jian zweifelte nicht daran, dass sie beide ihr Versprechen eingehalten hatten, trotz der Möglichkeiten, die sich ihr als Tochter eines Hohen Hauses und ihm als Bewohner der bridanischen Residenz, dem die Straßen und die Paläste gleichermaßen offen standen, zweifelsohne geboten hatten.
Ein letzter Blick, der ihn wieder ins Hier und Jetzt zurück brachte, schweifte die Wehranlagen entlang. Wind und Wetter hatten es auch in den letzten Jahren nicht geschafft, die Färbung der nach dem Friedensschluss ausgebesserten Stellen der Mauern dem Rest anzugleichen. Auch der erneuerte Überzug aus Muschelkalk überdeckte die Spuren nur dann, wenn er wie heute das Sonnenlicht gleißend zurück warf.
Jetzt im Hochsommer verlieh die Kraft des Ewigen Lichts den Mauern einen goldenen Schimmer, der ihnen ein wenig von der Strenge und Wuchtigkeit nahm, die frühere Generationen für nötig gehalten hatten. Seit drei Jahrzehnten hielten die Herden der Bridaniin untereinander Frieden und die Mauern waren es Relikte einer nicht allzu fernen Vergangenheit, von der Jian hoffte, sie möge sich nie wiederholen.
Er nickte den Torwachen grüßend zu, die er nicht persönlich kannte, die ihn jedoch ungehindert passieren ließen. Anders als in früheren Tagen stand der Palastbezirk jedem offen, denn es stand den gewählten Regenten Bridans nicht zu, sich wie die früheren Herdenfürsten von ihrem Volk abzusondern.
Nachdem Jian den Eingang passiert hatte, lag zu seiner Rechten die Palastburg. Er wandte sich jedoch nach links, dorthin, wo die Wohnhäuser jener Amtsträger lagen, die dem Regenten am nächsten waren. Allein sein Blick wanderte zur Burg.
Das Zentrum des Palastbezirks musste bereits am Beginn des Aufstiegs des Ughaaler Herrschergeschlechts ein ebenso beeindruckender wie grobschlächtiger Bau gewesen sein. Er bestand aus einem Hauptblock, der wie eine vierseitige Pyramide mit abgesägter Spitze aussah und vier annähernd quaderförmigen Blöcken, die an den Ecken der Hauptblocks geflanscht waren. Noch heute erhob sich die Palastburg, auf den küstennahen Hügeln und innerhalb der Jahrhunderte später entstandenen Mauern des Palastbezirks gelegen, über den Häusern der Stadt.
Die späten Nachkommen ihrer Erbauer hatten sich bemüht, die tristen Formen durch zahlreiche Anbauten und Veränderungen aufzulösen. Die Wände in den oberen Stockwerken waren nun auf größerer Länge durchbrochen, ließen Licht ins Innere und ermöglichten die Aussicht auf das umliegende Land. Vier schlanke, in der Grundfläche viereckige und sich nach oben hin verjüngende Türme reckten sich wie sehnende Finger in die Höhe, schienen am Tag nach der Sonne und in der Nacht nach den Sternen zu greifen.
Jian kannte die Lehre, dass jeder dieser Türme einem der Geister geweiht war, die in den Reichen der bekannten Welt vor allen anderen verehrt wurden. Der Turm auf der Seeseite trug die Insignien von Daudleeg, einem Geistwesen, dem Einfluss auf die See, die Reise und damit auch auf den Handel zugesprochen wurde. Wenn man genau hinsah, schien die Wesenheit wenig Wert auf diese Ehrerbietung zu legen, denn die Witterung des Meeres griff das Mauerwerk des Turmes ebenso an wie das jedes anderen Gebäudes.
Ein ganz anderes Bild bot der Turm der Parachi, er überragte die restlichen um ein Standbild an seiner Spitze, welches diese Geistgestalt des Friedens und des Zeitenwechsels so darstellte, wie sie der Legende nach vor Jahrhunderten den Wesen in allen drei Reichen erschienen war. Im Namen und Auftrag ihrer Geschwister hatte sie die Göttliche Ordnung kundgetan, eine Sammlung von Weisungen, nach denen noch heute gelebt wurde und die zur Grundlage für alle Gesetzgebungen aus sterblicher Hand geworden waren.
Viele glaubten, dass es ihr Bruder Linfaan, einer der vielen Geister, denen Klugheit und Geschicklichkeit zugesprochen wurde, gewesen war, der diese Gebote in der Alten Schrift niederlegte, damit sich die Sterblichen ihrer jederzeit erinnerten. Die als original angesehene Sammlung von Schriftrollen wurde im Turm des Linfaan selbst verwahrt.
Der Turm für Bilaani, einem Geist der Erde und der Fruchtbarkeit, war etwas kleiner als die anderen, doch jeder wusste, dass die Stockwerke, die dem Bauwerk über dem Erdboden fehlten, darunter durchaus vorhanden waren.
Der Geisterglaube der Völker Niella-Chatarcs kannte unzählige Wesenheiten, von denen diesen Vieren allein deshalb mehr Bedeutung zukam, weil sie sich angeblich vor Jahrhunderten den Sterblichen persönlich gezeigt hatten und in allen Regionen gleichermaßen verehrt wurden. Jian war nicht religiöser als viele andere Bewohner Niella-Chatarcs, aber auch er sah kaum Gründe, diese Geschichte anzufechten. Auch wenn sie erfunden sein mochte, hatte sie doch über Generationen und mit nur wenigen Ausnahmen Frieden und Gerechtigkeit erhalten.
Über diese Gedanken hatte Jian sein Ziel erreicht. In der Hoffnung, seine Pflegeeltern überraschen zu können, schlich er ins Haus. Auch das leiseste Geräusch würde dem feinen Gehör seiner Mutter nicht entgehen.
Mutter ..., sinnierte er.
Chidira war die erste Frau, die er so zu nennen gewohnt war, da ihm jede Erinnerung an seine natürlichen Eltern fehlte. Der Diplomatin Chidira war es zuzuschreiben, dass es überhaupt zu Friedensgesprächen mit den Efhiri gekommen war. Oreed war hatte ihre Garde angeführt, als sie sich in die Urwälder Tzanes gewagt hatte, um das Blutvergießen an der Grenze zu beenden. Obwohl sie getrennt nach Ughaal zurückgekehrt waren, hatten sie sich bald wieder getroffen und nach vielen ähnlichen Treffen beschlossen, ein Haus gemeinsam zu bewohnen.
Was sein Vorhaben der Überraschung anging, gelang es Jian schon aufgrund seiner mangelnden Konzentration nicht, ohne jedes Geräusch den Fuß der Stiege zum oberen Stockwerk zu erreichen.
"Bist du das, Oreed?", tönte es von oben und Chidira erschien im selben Augenblick auf der Stiege. Sie lächelte, als sie Jian erkannte. "Ach, lässt du dich auch wieder einmal bei uns blicken?"
"Meine Kleider müssen wieder gewaschen werden", entgegnete Jian, auf ihren scherzhaften Tonfall eingehend. "Ich bin auch gleich wieder weg."
"Das könnte dir so passen", meinte sie und stieg hinab. "Ich bin froh, dich gesund wiederzusehen."
"Das Reisen ist sicher geworden", sagte er und umarmte Chidira, wobei er umständlich darauf achtete, keinen Druck auf ihren Bauch auszuüben. Als er nach Adlhed aufgebrochen war, hatte es noch kein sichtbares Zeichen ihrer Schwangerschaft gegeben.
"Ich bin nicht aus Kristall, Jian", versicherte sie, als sie seine Vorsicht bemerkte.
Er zwinkerte. "Erkläre das bitte Oreed. – Wo ist er eigentlich?"
"Er ist aufgebrochen, um die Besucher aus Tzane vom Lufthafen abzuholen. Aber das interessiert dich sicher nicht ..."
"Sie treffen schon heute ein?"
Sie lächelte erneut, als sie die plötzliche Unruhe ihres Ziehsohns bemerkte. Er schien von einem Augenblick auf den nächsten zwischen dem Lufthafen und dem Wiedersehen mit seiner Mutter hin und her gerissen zu sein.
"Nun geh' schon", ermunterte sie ihn. "Mich hast du zwei Monde nicht gesehen, Ajisa ganze vier Jahre nicht."
"Bist du sicher?"
"muss ich dich erst hinauswerfen"
"Ich bin schon weg."

Im schnellen Gang und bei Benutzung der Gassen brauchte ein Fußgänger zwanzig Minuten vom Palast bis zum Lufthafen. Doch Jian hatte es eilig, und glücklicherweise waren nicht genug Leute auf den Straßen, um sich darüber zu wundern, wie ein junger Mann trotz der Hitze und in für Bridaniin undenkbarer Weise über Mauern und Zäune setzte. Jian war in der Lage, nicht den Umweg gehen zu müssen, den die gewundenen Gassen der Altstadt jedem anderen Passanten aufzwangen.

vorheriges Kapitel « • » nächstes Kapitel
 
Wegweiser
» Willkommen
» Die Welt
» Bibliothek
» Verschiedenes
» Impressum
» zur vorherigen Seite
 
Bote
» Gästebuch
» eMail
 
Download
» PDF, gezippt (149 KByte)

Willkommen | Die Welt | Bibliothek | Verschiedenes | Impressum
» zum Seitenanfang