Lugaai
 
Vorbemerkung
Der Begriff "Lugaai" beschrieb ursprünglich ein Kind, welches mit seinen Eltern nicht blutsverwandt, sondern adoptiert worden ist. Das geht darauf zurück, dass die Herkunft der ersten Lugaai im Dunkeln liegt: Sie tauchten als Säuglinge in den Lagern von Herden auf, ohne jedes Zeichen auf die leiblichen Eltern. Da sich die Bridaniin sich schon immer elternloses Kinder annahmen, fanden sich immer Familien, die sie um die Findlinge kümmerten. Erst später bemerkte man, dass die Kinder ab einem gewissen Alter seltsame Fähigkeiten entwickelten: Sie konnten Kraft ihres Willens Feuer entfachen, festes Material zertrümmern und bei lebenden Wesen Übelkeit, Lähmung, Ohnmacht und Halluzinationen hervorrufen.
Die Lugaai und ihre Nachfahren vermehrten sich stark in den folgenden Generationen. Einige hielten zu ihren Herden und den Gesetzen des Volkes, andere wurden durch ihre Fähigkeiten zur Gefahr. Einige Herden wollten kein Risiko eingehen, und verbannten ihre Lugaai, sobald sie alt genug waren, allein zu überleben. Viele von ihnen organisierten sich in neuen Herden; von denen einige geachtet, einige gefürchtet, und einige gehasst wurden. Diese Geschichte erzählt von einer solchen Herde.

Ein sanfter Wind fuhr über die Steppe und verwandelte das hüfthohe Gras in ein wogendes Meer von Grün und Gelb. Nur selten wurde die erhabene Eintönigkeit durch eine einzelne Blüte unterbrochen, das sinnfreie Wispern der Halme vom Summen der Insekten gestört, die Blüte um Blüte anflogen, um Vorräte für die kalten Tage zu sammeln.
Es war ein einsame Gestalt, die in diesem Meer schwamm, und sich langsamen Schrittes durch die Halme schob. Die Kleidung des Mannes hatte die Farbe des Grases, seine Haltung war geduckt, der kurze Wurfspieß mit der langen Spitze lag sicher in seiner Hand. Sein Blick aus orangen Augen wanderte unter der mit Schnüren unterschiedlicher Länge verzierten Lederkappe aufmerksam über die wallende Weite, auf der Suche nach Unregelmäßigkeiten in dieser Jahrtausende alten Symmetrie der Bewegung.
Am Rande der Ebene, im Schatten mächtiger Bäume, die ohne Übergang aus der Steppe erwuchsen, standen in loser Formation weitere Kämpfer, ähnlich wie ihre Kundschafter gekleidet und bewaffnet. Der dichte Wald machte es unmöglich, das Heer in seiner Gesamtheit zu überblicken, aber selbst in einiger Entfernung drückten sich noch bewaffnete Männer und Frauen zwischen den mächtigen Stämmen. Es schien, als wäre ein ganzes Volk aufgebrochen, einem Feind zu begegnen, von dem weit und breit nichts zu sehen war. Nur die ersten, die sich direkt am Waldrand verbargen, konnten das Vorrücken des Spähers verfolgen.
Angespannte Erwartung stand in den Gesichtern, nur in einigen wenigen war auch etwas von der Unruhe und Ungewissheit zu lesen, die vor einer Schlacht jedes Wesen befiel, das den Tod als seinen lebenslangen Begleiter wusste. Viele der Blicke waren auch auf den Heerführer gerichtet, einen hochgewachsenem Mann, den die selbstbewusste Haltung und ein um seinen Hals und Schultern gelegter, reich verzierter Schmuckkragen als Anführer verriet.
Die Hornplatten unter seinen unbedeckten Fußballen zermalmten unruhig einen kleines Stück Holz, während er das langsame Vorrücken des Freiwilligen beobachtete. Auch seine zusammengepressten Lippen verrieten, dass sich unter der selbstbewussten Maske die gleiche Nervosität wie bei seinen Leuten verbarg. Es hatte schier unglaubliche Mühe gekostet, die einzelnen Stämme der Südlichen Ebene für diesen Kampf zu vereinen. Wenn es diesmal nicht zur Entscheidung kam, wäre auf lange Zeit die Gelegenheit vertan, eine Seuche auszurotten.
Die ungeduldige Erwartung schärfte seine Sinne, und so bemerkte er die Veränderung noch bevor der Späher warnend den Arm hob. Das Bild der Steppe veränderte sich von einem Moment auf den nächsten, als mehrere Gestalten wie schwarze Blumen im Halbkreis vor dem Späher aus dem Gras wuchsen.
"Es beginnt", murmelte der Heerführer leise und nur diejenigen, die ihm am nächsten standen, konnten seine Worte verstehen. Erst als er seine Waffen zog, die an eine Mischung aus Axt und Sichel erinnerten, kam Bewegung in seine Leute. Langsam ließ er die gefährlich aussehenden Waffen um die Handgelenke kreisen, während sich die Alarmierung seines Heeres bis in die hintersten Reihen fortsetzte. "Wartet", befahl er, gerade so laut, dass es die ihm am nächsten Stehenden hören und weitergeben konnten. "Ehren wir zuvor unseren Gefährten."

Obwohl er jederzeit damit gerechnet hatte, konnte der Späher konnte ein Zusammenzucken nicht unterdrücken, als die Gestalten buchstäblich aus dem Nichts vor ihm auftauchten. Die Sechs waren von verschiedener Gestalt und trugen Kleider in dunklem Blau. Einige hatten ihre Gesichter mit Tüchern verdeckt oder aber die Kapuzen ihrer Reiseponchos tief ins Gesicht gezogen. Lugaai.
Wie auf ein unhörbares Signal erhoben sich weitere Gestalten aus dem Gras. Es mochte etwas über eine halbe Hundertschaft sein, die unbewegt zwischen den Halmen stand.
Der Mann spürte die auf ihn gerichteten Blicke und hob langsam den Spieß zum Wurf. Niemand reagierte auf die feindselige Geste, das gegenseitige Taxieren währte weitere unerträgliche Augenblicke. "Ihr, die Ihr vor mir wart, heißt mich willkommen", murmelte der Gestellte nur für sich hörbar und griff den ihm am nächsten Stehenden an. Dieser reagierte nicht, als er zwei Schritte vor ihm den Spieß schleuderte. Die Waffe bohrte sich kurz unter dem Kopf in die Gestalt und trat auf der anderen Seite wieder aus. Man sah kein Blut auf der geschwärzten Klinge des Spießes, als der Vermummte ohne einen Laut zu Boden ging.
Keiner der Anderen hatte etwas unternommen, den Angriff abzuwehren. Erst jetzt hob der neben dem zu Boden gegangenen Feind stehende Lugaai langsam den Arm.
Der Kundschafter kreuzte seine Hände über dem Brustbein. "Ich werde einer der Letzten sein, der durch eure Hände stirbt", sagte er laut, um das Kampfgeschrei seiner eigenen Leute zu übertönen, die hinter ihm aus dem Wald brachen und sich auf den zahlenmäßig unterlegenen Gegner zu stürzen. Hunderte von behuften Füßen ließen den Boden vibrieren.
Der Lugaai neigte den Kopf ein wenig zu Seite, als müsse er erst über die Worte nachdenken. – "Das mag sein", meinte er dann, und richtete seinen Arm auf den Späher. Für einen Augenblick lag ein schmerzhaftes Sirren in der Luft, ein immer höher werdender Ton, der sich anschickte, den Bereich des Hörbaren zu verlassen. Als der Ton verstummte, sackte der Späher mit einem erstickten Gurgeln in sich zusammen.
Unterdessen waren seine Mitstreiter nähergekommen, und weitere Vermummte fielen unter wohlgezielten Würfen. Die Antwort der Lugaai ließ die Steppe brennen, und das Blut beider Seiten dampfte mit dem Rauch des Feuers in den Himmel, der das Sterben unter sich im geduldigen Blau ertrug.

So unvermittelt, wie sie begonnen hatte, ging die erbitterte Schlacht bereits nach kurzer Zeit ihrem Ende entgegen. Flächenbrände trieben die Kämpfenden auseinander und zerstreuten das Savannenvolk in alle Winde. Der überwiegende Teil der Lugaai hatte die Auseinandersetzung mit dem Leben bezahlt, einige waren den Auswirkungen ihrer eigenen Kräfte zum Opfer gefallen und vielerorts verzehrten Flammen die Leichen der Gefallenen.
Zwischen den Feuern durchschnitten noch immer Wurfspieße die Luft oder brachten im Nahkampf geführt den Tod, noch immer zerbarsten Knochen unter den Kräften der Hexer. Die Kleider des Savannenvolkes gerieten selbst dort in Brand, wo kein Feuer wütete.
Irgendwo in dem Inferno aus verbrannter Steppe und dichtem Qualm hatte der Anführer des Savannenvolkes einige Besonnene um sich geschart und jagte die verbliebenen Hexer. Seine Sicheläxte wurden Gegner um Gegner zum Verhängnis, bevor der Kampfrausch seinen Tribut forderte. Mit dem Tod des Letzten seiner Gefolgsleute sank er erschöpft und aus zahlreichen Wunden blutend zu Boden.
Er wusste in diesem Moment unnatürlicher Klarheit, dass es ein Fehler gewesen war, die restlose Vernichtung der Lugaai anzustreben. Der Sieg gehörte seinem Volk, aber ihn würde es nicht retten. Er konnte nichts dagegen tun, dass sich vier vermummte Gestalten um ihn versammelten.
"Niemand", stieß er der eigenen Schwäche trotzend hervor, und lächelte seine Feinde überlegen an, während er eine seiner Sicheläxte zu sich heranzog und die schmale Klinge unter seinem Brustbein ansetzte. "von euch wird sich rühmen können, im Augenblick der Niederlage noch einen Sieg errungen zu haben."
Mit einem raschen Ruck rammte er sich die Klinge in den Körper. Er nahm nicht mehr wahr, wie sich einer der Lugaai über ihn beugte.
"Du magst recht haben, Tilead", meinte der Vermummte und der Schmerz in seiner Stimme war unüberhörbar. "Euer Sieg über uns ist vollständig." Die tief ins Gesicht fallende Kapuze verbarg seine Tränen, als er nachdenklich über den Schaft der Axt strich, die im Leib des Heerführers steckte. Mit einem kräftigen Ruck der rechten Hand zog er die Waffe heraus, mit der Linken stoppte er den Blutstrom, der aus der Wunde rann. "Aber vielleicht wirst du unser erstes Werkzeug sein, mit dem wir zu neuer Größe auferstehen können."
Eine der anderen Gestalten trat vor und beugte sich zu ihm herunter. "Was hast du vor?", fragte eine weibliche Stimme.
"Der Schirmherr sagte vor einiger Zeit voraus, dass wir sterben würden, wenn wir uns auf diese Reise begeben. Er bot uns an, dass die Gefangene Herrin uns retten könnte, wenn wir nur noch wenige sind. Er machte den Ersten unseres Bundes ein Angebot."
"Die Ersten lehnten ab", wandte die Lugaai ein.
"Die Ersten sind tot!", erwiderte der andere heftig.
"Nicht jeder hier traut dem Schirmherrn. Er regiert seit Generationen, doch noch immer erzählt man sich die Geschichte des Beginns seiner Herrschaft. Man sagt, nachdem seine Schwester und ihr Gatte überraschend starben, wusch er sich Blut von den Händen."
"Er war es, der uns Unterschlupf gewährte, als wir von aller Welt gejagt wurden."
"Dafür halfen wir ihm, seine Macht zu sichern. Wir wollten uns nie weiter in seine Schuld begeben."
"Diesmal haben wir nicht die Wahl." Er erhob sich und fasste seine Ordensschwester an der Schulter. "Vertrau mir, unsere Kinder werden friedlich aufwachsen."
Ihr Blick wanderte über die schwelende Steppe. Der Lärm des Kampfes und das Tosen der Flammen war einer bedrückenden Stille gewichen. Schließlich nickte sie. "Verlassen wir diesen Ort für immer."

 
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